Psychohygiene und warum die Stärkung der mentalen Gesundheit für interkulturelle Dolmetschende wichtig ist

Dieser Blogpost wurde von unserer Mitarbeiterin Katharina Hutter verfasst, die selbst seit Jahren als interkulturelle Dolmetscherin tätig ist.

Am 10. Oktober wurde der Welttag der psychischen Gesundheit, der World Mental Health Day, gefeiert. Dieser Tag ist ein guter Anlass, Aufmerksamkeit auf die interkulturellen Dolmetschenden zu lenken, die einen wichtigen Beitrag zum Abbau von Sprachbarrieren leisten. Denn für Dolmetschende, die in psychotherapeutischen Settings arbeiten, ist auch die eigene psychische Gesundheit ein wichtiges und oft unterschätztes Thema. Dieser Blog-Artikel widmet sich einigen Massnahmen, die zum Schutz und zum Erhalt der psychischen Gesundheit von Dolmetschenden getroffen werden können. Genauso wie bei körperlicher Fitness kann man auch als Dolmetscherin tägliche Plegemassnahmen, sogenannte Psychohygiene, üben, um mit belastenden Situationen und Stress besser umzugehen. Was kann ein Dolmetscher oder eine Dolmetscherin nach einem Einsatz mit einem Psychotherapeuten und einem fremdsprachigen Patienten tun, um das Gehörte und das Erlebte aufzuarbeiten? Wie kann sie ihrer eigenen mentalen Gesundheit angemessen Sorge tragen?

Aus meiner eigenen Erfahrung als Dolmetscherin habe ich gelernt, wie wichtig es ist, sich nach einem besonders belastenden Einsatz etwas Gutes zu tun. Ich bin seit 9 Jahren als interkulturelle Dolmetscherin im Einsatz und habe manche Geschichten gehört, die mir unter die Haut gegangen sind. Dabei waren das nicht nur Einsätze beim Psychiater oder Psychotherapeuten, sondern auch bei der Opferhilfe, der Sozialhilfe, der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) oder sogar im Spital. Nach emotional besonders bedrückenden Einsätzen sollte man darauf achten, einen Weg zu finden, sich vom Miterlebten abzugrenzen.

Aktiv zuhören und sich abgrenzen

Als DolmetscherIn verwendet man verschiedene Techniken, um ein Gespräch zu übersetzen. Man sollte allparteilich, neutral und empathisch dem Gespräch folgen und immer aktiv zuhören. Aktives Zuhören ist eine Spezialform des Zuhörens, die als Werkzeug zur Gesprächsführung von dem Psychologen Carl Rogers entwickelt wurde. Beim aktiven Zuhören versucht der Empfänger, die Nachricht des Senders so zu verstehen, wie sie gemeint war bzw. wie sie beim Empfänger ankommen soll. Dabei sollte man sich in den anderen hineinversetzen, sich selbst zurückstellen und sich komplett auf sein Gegenüber konzentrieren.

Allerdings kann dieser empathische Bezug der Dolmetscherin zu den Emotionen und Leiden der Person, die durch das aktive Zuhören entsteht, eine Grundlage für die Entwicklung eines sogenannten «sekundären Traumas» darstellen. Wenn man ständig aktiv zuhört, ohne gleichzeitig Techniken anzuwenden, sich professionell abzugrenzen, besteht die Gefahr, dass man selbst von der Geschichte mitgerissen wird. Ein sekundäres Trauma bezeichnet also ein Trauma, das die Dolmetscherin nicht aufgrund von etwas erlebt, das ihr direkt passiert ist, sondern aufgrund einer indirekten (sekundären) Verbindung (ohne sensorische Eindrücke und mit einer zeitlichen Distanz) zu einer traumatischen Erfahrung, wie zum Beispiel der Schilderung eines traumatischen Erlebnisses in einem verdolmetschten Gespräch.

Grundannahmen über sich selbst und die Welt können sich verändern

Wenn eine Dolmetscherin über lange Zeit regelmässig dem Trauma anderer Personen zuhört, kann dies überwältigend sein und kann dazu führen, dass sich ihre kognitiven Schemata durch all diese traumatischen Geschichten verändern. Die Dolmetscherin kann auf Grund des Traumas, das die andere Person erlebt hat, die eigenen Grundannahmen über sich selbst und die Welt verändern. Die Grundannahmen der Dolmetscherin können durch das Trauma der anderen Person verändert werden, und zwar ohne direkten Kontakt zum Ausgangstrauma, sondern lediglich durch Zuhören, Einfühlen und bildhaftes Vorstellen. Diese Veränderung von grundlegenden Überzeugungen kann über einen längeren Zeitraum andauern. Durch eine wiederholte Auseinandersetzung der Dolmetscherin mit dem Inhalt des Traumas kann dann im schlimmsten Fall eine stellvertretende Traumatisierung entstehen.

Diese Traumatisierung äussert sich in Form von Symptomen wie beispielsweise erhöhter Wachsamkeit und Übererregung, Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, Interessenverlust, Hoffnungslosigkeit und Wiedererleben. Darüber hinaus fühlen sich Personen, die solch ein indirektes Trauma erleben, häufig unkonzentriert, erschöpft oder bedroht, können Arbeit und Freizeit nicht mehr voneinander trennen und greifen im schlimmsten Fall zu Alkohol und Beruhigungsmitteln.

Sich Sorge tragen

Traumatischen Inhalten zuzuhören kann auch Erinnerungen an eigene traumatische Erlebnisse wecken. Daher sind sekundäre und stellvertretende Traumata einem direkten Trauma gleichzusetzen. Weil sie ähnliche Symptome auslösen, werden sie auch gleich behandelt. Es ist enorm wichtig, dass Dolmetschende lernen, sich Sorge zu tragen, indem sie die Präventionsmöglichkeiten kennen, um handlungsfähig zu bleiben.

Strategien für die Selbstsorge

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich um sich selbst zu kümmern. Die Strategien, die mir am meisten helfen, sind körperliche Aktivität, Ablenkung, Entspannung, Selbstreflexion und regelmässige Achtsamkeit. Wenn ich trotz dieser Strategien noch immer Schwierigkeiten habe, Inhalte aus meinen Dolmetscheinsätzen zu verarbeiten, kann ich in eine Intervisions- oder Supervisionsstunde gehen, wo Dolmetschende zusammenkommen und bei der Reflexion und Verbesserung des persönlichen und professionellen Handelns durch einen Supervisor begleitet werden.

Nach einem belastenden Gespräch mache ich gerne einen Spaziergang. Da ich in der Stadt lebe, ist es eine relativ einfache Möglichkeit, zu Fuss von einem Einsatzort zum nächsten zu gehen, statt mit dem öffentlichen Verkehr zu fahren. Ich geniesse die frische Luft und die Natur, sie helfen mir dabei, auf neue Gedanken zu kommen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass körperliche Aktivität einen positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit eines Menschen hat. Ich kann auch andere Sportarten oder Yoga empfehlen. Diese körperlichen Aktivitäten helfen mir, Alltags- und beruflichen Stress abzubauen, indem ich abschalte und zur Ruhe komme.

Eine andere Strategie der Abgrenzung ist die Ablenkung – dazu gehören zum Beispiel ins Kino zu gehen, sich in einem Buch zu vertiefen oder sich mit Freunden zu treffen.

Wenn man auch mit Aktivität, Entspannung oder Ablenkung noch immer nicht von der Geschichte loslassen kann, dann sollte man sich ernsthaft überlegen, eine regelmässige Intervisions-Stunde aufzusuchen.

Titelbild von Nathan Dumlao auf Unsplash

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